Ein Pferd zum Geburtstag
(Gutenachtgeschichte aus der Zeitschrift Romanwoche, Pabel Moewig, 1998)Sonja wünschte sich zum Geburtstag ein Pferd. Ein echtes Pferd, auf dem sie
reiten konnte und das nur ihr allein gehörte. Aber Papa sagt, dass er
ihr diesen Wunsch nicht erfüllen könne, weil ein Pferd viel zu teuer sei.
Er machte seiner Tochter stattdessen einen Vorschlag: „Ich kann dir ein Pferd
mieten, das du dann aber auch täglich reiten und pflegen musst.“
„Oh ja, Papa!“, freute sich Sonja.
Sonja kannte im Reitstall jedes Tier. Denn sie war fast täglich bei den Pferden
und sprach mit ihnen. Und jedes Mal stellte sie sich dabei vor, wie schön es wäre, in rasendem Galopp durch die Welt zu reiten. Sicher würde sie sich dabei
wie im Himmel fühlen. Die Felder, Blumen und Wälder würden blitzschnell an
ihr vorüberziehen …
Am besten von allen Pferden gefiel ihr Gilpi. Das war ein Rappe mit langer
Mähne und glänzendem Fell. An Gilpis Box blieb Sonja immer besonders lange
stehen. Sie sprach zu ihm, und er streckte ihr dabei stets freundlich seinen
Kopf zum Streicheln entgegen. Sonja spürte, wie sehr auch das Pferd sie
mochte.
Einen Tag vor Sonjas Geburtstag war es dann endlich so weit. Sie durfte sich
das Mietpferd aussuchen. Zusammen mit ihrem Vater ging sie zum Reitstall.
Natürlich zeigte sie gleich auf Gilpi und sagte: „Den will ich haben und sonst
keinen!“
Aber der Besitzer des Reitstalls, der dabeistand, meinte: „Gilpi kann man nicht
mieten. Er hat kranke Beine und darf deshalb nur im Schritt geritten werden. Er
ist schon sehr alt und bekommt hier bei uns sein Gnadenbrot. Für den könnte
ich gar kein Geld verlangen.“
„Macht nichts“, sagte Papa, „es stehen ja noch viele andere wunderschöne
Pferde hier. Schau mal, wie wäre es mit dem großen Rotbraunen dort hinten?“
„Prinz“ stand auf dem Namensschild an der Box geschrieben.
„Nein“, sagte Sonja, „er sieht zwar schön aus und ist gesund, aber ich liebe ihn
nicht so sehr wie Gilpi.“
„Doch, wir nehmen den Prinz“, sagte Papa und sprach auch schon mit dem
Besitzer des Reitstalls über den Mietpreis
Eigentlich hätte Sonja glücklich sein müssen, dass sie zum Geburtstag ein
Mietpferd bekam, aber sie war sehr, sehr traurig, weil es nicht das Tier war,
das sie lieb hatte. Jedes Mal, wenn sie den schönen Prinz aus der Box holte,
blickte sie sehnsüchtig zu Gilpi hinüber.
Mit Prinz konnte sie zwar in rasendem Galopp über Felder und Wiesen reiten,
aber wie im Himmel fühlte sie sich nicht. Viel himmlischer wäre es gewesen,
mit Gilpi gemächlich im Schritt durch die Natur zu wandern. Stattdessen
musste der geliebte Gilpi einsam und allein im Pferdestall in seiner Box bleiben.
Eines Tages wollte Sonja vor lauter Traurigkeit gar nicht mehr zum Reitstall
gehen. Papa fragte, warum sie denn nicht mehr reite, wo er doch jeden Monat
so viel Geld für Prinz bezahle. Und da erzählte Sonja ihm vom traurigen Gilpi,
den sie so lieb hatte.
Auf einmal verstand Papa alles. Er verstand, dass man ein Tier nicht nur
deshalb lieb haben kann, weil es schön aussieht. Liebe kommt von innen und
ist einfach da. Sie hat nichts mit Äußerlichkeiten zu tun. Bei uns Menschen ist
das schließlich genauso.
Papa wollte, dass Sonja wieder fröhlich wurde. Er ging mit ihr zum Pferdestall
und erklärte dem Besitzer, dass er Gilpi für seine Tochter mieten würde. Prinz
würde sicher bald eine andere Reiterin finden, die ihn gerne mochte.
Sofort war der Pferdeeigentümer einverstanden, dass Sonja auf Gilpi ritt – ganz
langsam im Schritt – und sogar umsonst.
Von da an war Sonja wieder ein glückliches Mädchen. Sie freute sich auf jeden
Ausritt mit Gilpi. Das Pferd und seine Reiterin gingen über Wiesen, Felder und
durch Auen. Dabei betrachteten sie die Blumen am Wegrand, genossen die
Sonne, die ihnen zulachte und fühlten sich wie im Himmel. Und wenn sie
wieder in den Stall zurückkamen, wurde Gilpi sorgfältig gestriegelt, und er
durfte seine müden Beine ausruhen.
Am nächsten Tag kam Sonja wieder und spazierte mit ihm erneut durch die Welt. So
wurde für Sonja und Gilpi jeder Tag zum Festtag, zu einem Tag voller
Sonnenschein und Freude.
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