Redaktionsbüro Kaltenthaler: Die kleine Seiltänzerin

Die kleine Seiltänzerin


(Gutenachtgeschichte aus Mein Kind lernt schlafen, Gondrom, 2005)

Nathalie wollte Seiltänzerin werden, wenn sie später groß sein würde. Als sie
an einem Sonntag mit ihrem Papa im Zirkus gewesen war, hatte ihr die
Vorstellung der Seiltänzerin am besten gefallen. Nathalie hatte laut in die
Hände geklatscht, als das junge Mädchen im engen rosa Glitzeranzug hoch
oben am Zirkuszelt über ein dünnes Drahtseil getänzelt war. Dabei hatte es
einen goldenen Regenschirm in der Hand gehalten und elegante Kunststücke
vorgeführt. Einmal hatte es fast das Gleichgewicht verloren. Aber es hatte sich
doch noch fangen können und war am Schluss unversehrt an einer Stange
wieder auf den Boden zurückgeglitten. Nathalie und alle anderen Kinder hatten
erleichtert aufgeatmet.
Seit dieser Vorstellung wollte Nathalie Seiltänzerin werden.
Einen engen Glitzeranzug in Rosa besaß sie schon. Mama hatte ihn ihr selbst
genäht. Wenn Nathalie nachmittags vom Kindergarten nach Hause kam, zog
sie ihn oft an und übte. Sie tänzelte – mit ihrem neuen Elefanten-Regenschirm
in der Hand – über Mamas gelbe Wäscheleine, die sie quer durchs ganze
Wohnzimmer auf den Teppichboden gelegt hatte. Ihre gefährlichste Übung: ein
Purzelbaum. Ganz schön gewagt auf einem so dünnen Seil! Aber sie schaffte
ihn immer ohne abzustürzen. Mama musste dann Beifall klatschen und
„Zugabe“ rufen.
Eines Nachts träumte Nathalie etwas sehr Aufregendes: Sie balancierte in
ihrem rosa Glitzeranzug hoch oben am Himmel über ein dünnes Seil. Es war
von der einen Kirchturmspitze im Dorf bis zur anderen gespannt. Über ihr der
Himmel und die Wolken, unter ihr die Dächer der Häuser und eine Schar von
Menschen, so klein wie Stecknadelköpfe. In der Hand hielt sie wie immer ihren
Elefantenschirm. Vorsichtig tänzelte sie vorwärts, noch vorsichtiger rückwärts.
Sie ging langsam in die Knie. Und wieder hoch. Hier durfte nichts passieren, so
hoch oben über den Dächern!
Nathalie überlegte, ob sie den Leuten dort unten, die mit Ferngläsern zu ihr
hinaufstarrten, auch ihre riskanteste Übung zeigen sollte: den Purzelbaum. Ein
wenig Angst hatte sie schon. Aber sie wagte es, rollte sich auf dem dünnen Seil ein wie eine Schnecke. Dann ein kleiner Schwung, und sie purzelte herum, und – oh
weh – sie stürzte … und stürzte in die Tiefe. Nathalie schrie aus voller Kehle.
Plumps – da lag sie auf dem Boden, neben ihrem Bett. Sie weinte.
Mama stand da im Nachthemd, lachte ganz leise und fragte mit sanfter
Stimme: „Machst du Turnübungen mitten in der Nacht?“
Nathalie war ganz erleichtert, denn sie merkte, dass alles nur ein Traum war.
Sie war nicht vom Himmel gefallen, sondern aus dem Bett.
„Meine süße kleine Traumtänzerin“, sagte Mama liebevoll. Sie hob Sandra
wieder ins Bett, gab ihr einen Gute-Nacht-Kuss und verschwand ins
Schlafzimmer.

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